Dominik darf nicht sterben

 

von

Tina Krug

 

Diese Zeilen möchte ich all denen widmen, die mich auf meinem langen, schweren Weg begleitet haben und noch begleiten werden.

 

Dominik

 

Wider Erwarten hatte ich die Nacht durchgeschlafen. Ich öffnete die Augen. Das Telefon hat nicht geklingelt, durchfuhr es mich.  Dann hat sich sein Zustand bestimmt gebessert. Erleichtert atmete ich tief durch. Zuversichtlich stand ich auf.  Die Telefonnummer der Kinderintensivstation Heidelberg „FIPS“ kannte ich mittlerweile auswendig.

 

„Tina Krug. Guten Morgen. Ich wollte fragen, wie es meinem Sohn Dominik geht“. Der Arzt am anderen Ende der Leitung drückte sich vorsichtig aus: „Tja, ich würde eher sagen, Ihrem Sohn geht es heute noch eine Spur schlechter als gestern. Wann hatten Sie vor zu kommen? Ich würde gerne mit Ihnen sprechen. Bis 10.00 Uhr bin ich auf jeden Fall da“.

Ich weckte meinen Mann Bernd:“ Wir müssen sofort in die Klinik fahren. Der Arzt will mit uns sprechen. Du weißt, was das bedeutet?“

Er nickte stumm. Es würde kein Morgen für unser Baby geben.

 

Auf der vierzigminütigen Fahrt durchlebte ich nochmals meine Schwangerschaft. Jahrelang hatte ich mir ein Baby, insbesondere einen Sohn, gewünscht. Kurz nach meinem dreißigsten Geburtstag sollte sich mein Traum erfüllen. Ich war schwanger. Doch von großem Glück war leider keine Rede. Mein Frauenarzt stellte nicht nur die Schwangerschaft, sondern gleichzeitig auch eine drohende Fehlgeburt, fest. Die nächsten zwei Monate lag ich mit Blutungen Zuhause. Ich hatte Schmerzen und wusste an so manchem Tag nicht, ob ich mein Baby verloren hatte. Aber mein Kind schaffte es. Die Blutungen versiegten, mein Baby wuchs. Ich war so glücklich.


Doch nach wenigen Wochen der nächste Schlag. In meinem Blut wurden Werte festgestellt, die auf Mongolismus deuteten. Eine Fruchtwasseruntersuchung bestätigte diesen Verdacht jedoch nicht. Drei Wochen mussten wir auf das Ergebnis warten. Ich beschäftigte mich in dieser Zeit sehr intensiv mit meinem Kind.  Zeigte ihm Wiesen und Felder, sprach mit ihm und hüllte ihn ein, in Wärme und Liebe. Kurz nach der erlösenden Nachricht fuhren wir drei in Urlaub. Wir sollten einen Sohn bekommen! Ich war mächtig stolz und erzählte jedem von meinem Kind. In dieser Zeit spürte ich ihn das erste Mal deutlich in mir. Ganz tiefe Dankbarkeit ergriff mich. Spontan entschloss ich mich: Er sollte Dominik heißen. Der zum Herrn gehörende. Mein Sohn, niemals will ich vergessen, Gott für die Stunden und das Leben mit Dir zu danken.

 

Einige Zeit später wachte ich nachts mit Magenkrämpfen auf. Mir war furchtbar übel und nächtelang verbrachte ich im Bad. Nachdem sich mein Zustand gar nicht mehr besserte, wurde ich ins Diakonissen Krankenhaus nach Karlsruhe eingeliefert. Diagnose: Hellp-Syndrom. Vierundzwanzigste Schwangerschaftswoche. Während dieser Zeit kümmerte sich ein junger Arzt liebevoll um uns. Die Vergiftungserscheinungen ließen nach, dem Kind ging es gut, die Blutwerte normalisierten sich. Immer wieder sprachen der Arzt und die Schwestern mir Trost zu, halfen, meine Tränen zu trocknen. 

 

Nach der Entlassung blieb ich bei meinem Krankenhausarzt zur regelmäßigen Blut- und Wachstumskontrolle. Voller Freude eröffnete er mir eines Tages:“ Gratuliere. Ihr Sohn wiegt schätzungsweise 700 Gramm. Ab jetzt hat er eine Chance zu überleben.“

 

Eine Woche später geschah es dann. Mir wurde wieder schlecht. Die Kindsbewegungen schwächten ab. Voller Angst fuhr ich ins Krankenhaus. Mein Arzt war glücklicherweise da. Sofort legte er mich an die Infusionen. Seine Nähe beruhigte mich. Mit Sicherheit würde er uns wieder helfen.


Doch die Behandlung schlug nicht mehr an. Die Werte sanken drastisch. Meinem Baby ging es schlechter. Samstagabend überwies mich der Oberarzt in die nächstgelegene Universitätsklinik. „Ihr Kind muss heute noch per Kaiserschnitt zur Welt gebracht werden. In Heidelberg ist die Kinderintensivstation direkt dabei. Ich möchte Ihrem Baby jeden Transport außerhalb des Mutterleibes ersparen. Sie wissen, er ist für die neunundzwanzigste Schwangerschaftswoche noch sehr klein. Dort sind Sie in den besten Händen.“

 

Ich begriff eigentlich erst, als der Krankenwagenfahrer mich in den Kreissaal schob. Ich  fühlte mich so allein. Unzählige fremde Gesichter. Ich sehnte mich nach meinem vertrauten Arzt aus Karlsruhe. Wenn er doch nur da wäre, mir die Hand hielte und mir meine Angst nähme.

 

Ich dachte an meinen Sohn. Am frühen Morgen hatte er sich noch bewegt, es war wie ein Streicheln. So, als wolle er mich trösten. Dominik, ich glaube Du hast geahnt was geschehen würde.

 

Eine tiefe Zuversicht erfasste mich, während ich in den OP gefahren wurde. Direkt neben mir schob eine Schwester seinen Brutkasten. Es war also alles bereit für ihn. Was sollte da noch geschehen? Bald würde er in den sicheren Händen eines Arztes sein, der ihn vor den ständigen Bedrohungen meines Körpers schützte. Fast erleichtert fiel ich in den tiefen Narkoseschlaf.

 

Irgendwann in der Nacht war Bernd an meiner Seite: „Du hast es geschafft, dem Kleinen geht es gut.“ Natürlich, wollte ich sagen, was denn sonst, aber ich war zu schwach.

 

Ich kam wieder zu mir, als eine Stimme durch den Nebel in mein Bewusstsein drang: “Herr Krug Ihr Kind wiegt nur 575 Gramm. Beten Sie".


Meine Krankheit ließ mir jedoch keine Zeit, näher darauf einzugehen. Starke innere Blutungen machten eine erneute Operation erforderlich. Eingehüllt in Schmerzen und völlig geschwächt, dämmerte ich die nächsten Tage vor mich hin. Zaghafte Fragen nach meinem Kind beantwortete man mit: „Es geht ihm gut, er ist halt noch sehr klein". Damit gab ich mich zufrieden. Ich erwartete gar keine andere Antwort.

 

Lediglich das Verhalten von Bernd irritierte mich. Aufgelöst und mit Tränen in den Augen kam er stets von unserem Sohn. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich musste selbst mit einem Kinderarzt reden.

 

Das Gespräch erschreckte mich. Ganz behutsam versuchte der Arzt, mir den Gedanken an einen möglichen Tod meines Kindes nahe zulegen. Für mich stand dies völlig außer Frage. Warum sollte er sterben? Nach alledem? Nein, es war unmöglich. Er würde leben, dessen war ich mir sicher.

 

Knapp eine Woche nach seiner Geburt sah ich ihn zum ersten Mal. Schlagartig verstand ich Bernd. Ein winzig kleiner Mensch lag da vor mir. Sein Körperchen bedeckt mit Pflastern und Schläuchen. Eine Hand, so groß wie mein Fingernagel. Fassungslos begann ich zu weinen.

 

In den kommenden Tagen besuchte ich ihn regelmäßig morgens, mittags und abends. Streichelte ihn, genoss die Berührungen seiner samtweichen Haut. Die Ärzte zeigten sich etwas optimistischer. Bald fühlte ich mich auf der FIPS richtig Zuhause. Alle zeigten sich aufgeschlossen, warmherzig und jederzeit bereit, auf Fragen einzugehen. Meinen geliebten Dominik behandelten sie mit viel Zärtlichkeit. Er machte mich so glücklich. Wie er sich unter meinen Händen räkelte, meinen Finger umschloss, mit den Füßchen strampelte. Ich freute mich auf die Zeit mit ihm Zuhause. Stundenlang schmusen, die Welt gemeinsam entdecken. Es würde herrlich werden! Ich liebte ihn so sehr.


Frühmorgens an Allerheiligen riss jemand die Tür zu meinem Krankenzimmer auf. Kreidebleich stand Bernd vor mir: „Der Professor hat angerufen. Ich sollte sofort kommen. Unser Kleiner hatte heute Nacht einen Aussetzer. Er lebt noch, aber alles ist sehr bedenklich.“

Schonend versuchte uns später der Professor klarzumachen, welche möglichen Folgen dieses Herzversagen haben könnte: „Teilweise wurde das Gehirn nicht mit Sauerstoff versorgt. Mit Hirnschäden ist deshalb zu rechnen. Allerdings können wir dies mit Bestimmtheit erst in zwei bis drei Tagen sagen. Wenn es sich bewahrheiten sollte, kann ich Ihnen, falls er überlebt, nur noch ein schwerstbehindertes Kind übergeben. Geistig wie körperlich. Lassen Sie uns am Wochenende nochmals darüber reden. Denken Sie über die Möglichkeit nach, Ihrem Kind Frieden zu schenken.“


Im Laufe dieses Donnerstags verschlechterte sich sein Zustand stetig. Freitag versagte ein Organ nach dem anderen. Die Ärzte wurden immer ernster. Kreidebleich lag er in seinem Inkubator. Vollgepumpt mit Schmerzmitteln, die sein Leiden linderten. Mein Herz blutete. Ich wehrte mich gegen den Gedanken, er könne sterben. Wollte nicht wahrhaben, was man mir sagte. An diesem Abend wurde ich auf meinen Wunsch hin entlassen. Ich konnte es nicht ertragen, die Nacht allein im Krankenhaus zu verbringen. Uns war klar: Er sollte nicht unnötig leiden, aber wir wollten noch auf die endgültige Diagnose warten. Man hatte uns versprochen, sofort anzurufen, falls irgendetwas passieren sollte. Wir stellten in dieser Nacht das Telefon direkt neben das Bett. Spät schliefen wir ein.

 

Sein Tod

 

Mit klopfendem Herzen betraten wir das Krankenhaus. Nie werde ich den Augenblick vergessen, als ich die Intensivstation betrat: Zwei Ärzte lehnten niedergeschlagen an seinem Inkubator. Im Raum herrschte eine eigentümliche Stille. Der Tod erwartete uns. Wir blieben einige Minuten mit unserem Sohn allein. Unfähig irgendetwas zu denken, saß ich da und starrte vor mich hin. Bernd unterbrach das Schweigen. „Lass uns um einen Pfarrer bitten, der ihn tauft“. Bei den Worten: „Ich taufe Dich auf die Namen Dominik, Alexander, Stephan“ fing ich an zu schluchzen. Mir war, als fiele eine Tür ins Schloss. Nun gab es kein Zurück.

 

Mit leiser Stimme gab der Arzt seine letzte Anweisung. Mein Sohn bekam Morphium, dann wurde die Lungenmaschine abgeschaltet.

 

Keiner von uns beiden war in der Lage, sich zu rühren. Ich dachte: „Das ist ein Traum. Gleich schlägt er seine Augen auf, strampelt und ist quietschfidel. Es kann doch einfach nicht sein, das ein Baby, MEIN BABY, stirbt. Herr, tu etwas. Hilf ihm.“ Aber nichts geschah.


Ich blickte auf meinen Sohn. Liebevoll streichelte die Hand des Oberarztes seinen Kopf.  Eigentlich wäre das jetzt meine Aufgabe. Schuldbewusst schloss ich die Augen. Nachdem dann Bernd zu seinem Sohn ging, fand auch ich kurz die Kraft. Wenig später die Stimme der Ärztin: „Er ist eingeschlafen“. Es war also vorbei. Er war tot. Wie nur sollte ich weiterleben? Ohne ihn? Warum hörte mein Herz nicht auf zu schlagen? Mein Kind war tot und ich, ich atmete: Ein, Aus. Ein, Aus.


Wie in Trance verließ ich die Station. Ich wunderte mich, das meine Füße mich noch trugen. Gleich würde ich zusammensinken um in eine tiefe schwarze Nacht zu fallen. Vor der Klinik war alles hektisch und laut. Menschen hasteten vorüber, Autos hupten. Am liebsten hätte ich sie angeschrien: „Mein Sohn ist tot. Wie könnt ihr tun, als sei nichts geschehen?“

 

Es kam mir vor, als sei alles in mir auf Zeitlupentempo gestellt. Alles um mich so unwirklich, fremd und doch so nah.

 

Zuhause angekommen brach plötzlich alles aus mir heraus. Ich heulte nur noch. Es tat so weh. Ich hatte das Gefühl, als wolle mir jemand das Herz aus der Brust reißen. Ich schrie, tobte, klagte an. Riss das Fenster auf, wenn ich meinte zu ersticken. Von Gott fühlte ich mich im Stich gelassen. Wie konnte er mir meinen Sohn nehmen? Warum musste ein so unschuldiges kleines Wesen sterben? Was hatte ich getan? WARUM?


Die erste Woche

 

Meine Welt lag in Scherben vor mir. Die ganze Zukunft hatte sich auf ein Leben mit meinem Baby ausgerichtet. Nun war alles leer. Wie mein Körper. Immer wieder streichelte ich meinen Bauch. Wartete auf seine Antwort.

 

Alle bisher gültigen Werte erschienen mir nun zweifelhaft. Was sollte das für ein Leben sein ohne ihn? Nichts konnte mehr so sein, wie es einmal war. Alles musste von Grund auf neu geordnet und bedacht werden. In diesen ersten schweren Tagen stand eine treue Freundin fest an meiner Seite. Mit ihr konnte ich reden. Stundenlang. Während dieser Gespräche erkannte ich: Es gab nur zwei Möglichkeiten für mich. Entweder hassen, mich der Verbitterung über das ungerechte Schicksal hingeben, oder versuchen, anzunehmen und seinem Tod einen Sinn zu geben. Ich war und blieb Mutter. Ich hatte eine Verantwortung gegenüber meinem toten Kind. Der kleine Kerl hatte sich all die Monate so tapfer geschlagen. Das konnte unmöglich umsonst gewesen sein.

 

Dann hatte ich einen eigenartigen Traum: Etwas hob mich empor, zeigte auf eine Tafel. Ich las, vergaß aber im gleichen Augenblick die Worte. In meinem Gedächtnis blieb lediglich: Es gibt eine Antwort auf all meine Fragen. Sie ist ganz einfach. Nur für mich noch nicht begreifbar.

 

Einkaufen artete jedes mal zu einem Spießrutenlauf aus. Überall glückliche Mütter mit ihren Kindern. Sie alle durften leben, nur mein Baby nicht. Tränenüberströmt fuhr ich heim, brüllte dort meinen Schmerz heraus. Dieses Glück um mich herum konnte ich kaum ertragen. All die Anderen bekamen so selbstverständlich ihre Kinder. Alle, außer uns. Es schien mir, als sei ich der einzige Mensch auf der Welt, dem großes Leid widerfuhr.

 

Dank der FIPS verfügte ich über eine Kontaktadresse für Eltern von Frühchen. Von dort erhielt ich die Telefonnummer der Selbsthilfegruppe Verwaiste Eltern. Der Kontakt zu dieser Gruppe war ein ganz entscheidender Schritt für mich. Ich war in meiner Trauer nicht allein.


Die zweite Woche

 

Immer wieder wunderte ich mich, wie viele Tränen ein Mensch hat. Ob für mich irgendwann einmal wieder ein Tag, eine Nacht kommen würde, ohne zu weinen? Ständig durchlebte ich die vergangenen Wochen und Monate. Die Sehnsucht nach meinem Kind wuchs ins Unerträgliche. Wo er wohl war? Was er machte? Es gab so viele Fragen, wo aber konnte ich die Antwort finden. Ich wusste, ich würde es allein nicht schaffen. Es tat wohl, mir vorzustellen, dort wo er jetzt sein könnte, ginge es ihm gut. Wäre er geborgen und wohlbehütet. Und da gab es eine Religion, die mir genau jenes anbot.

 

Mein erster Besuch im Bibelkreis barg für mich eine wichtige Erfahrung: Viel Trost und Kraft konnte man aus den Worten Jesus entnehmen. Ich spürte eine ausgestreckte Hand, die bereit war, mich durch die Finsternis zu führen.

 

Unentbehrlich für mich wurden bald die Gespräche mit anderen betroffenen Müttern. „Dieses sich im anderen wieder finden“ faszinierte mich stets auf das Neue. Partnerschaftsprobleme, Schuldgefühle, Angst, Schmerz und Verzweiflung trug sich gemeinsam leichter. Es drehte sich nicht mehr um „wie soll ich es schaffen, wie überleben“ sondern darum Sie hat überlebt, wir schaffen es. Man tauschte Büchertipps, Ratschläge, Hinweise auf Veranstaltungen und auf andere Organisationen aus.

 

Verwundert bemerkte ich eines Tages meine Worte: „Ich freue mich auf unser Treffen“. Ich sprach von Freude und meinte es ehrlich. Es war der erste Schritt aus meiner Welt des Schmerzes.

 

Die dritte Woche

 

Noch immer fand ich mich in der Welt draußen nicht zurecht. Die Menschen mit ihrem oberflächlichen Gerede von Rezepten, Autos, Wetter usw. ödeten mich an. Dumme Bemerkungen wie: „Hast Du Dich jetzt endlich gefangen; es war doch erst vierzehn Tage alt; sei froh, es ist besser so; Ihr könnt ja noch Kinder haben usw.“ bestärkten mich in dem Entschluss die „normalen“ Menschen zu meiden. Bernd verstand dies nicht. Er wollte nicht mehr über seinen Sohn sprechen, meine Verzweiflung nicht sehen. Er blockte ab, schlug Kino, Ausflüge und Sonstiges vor. Ich empfand dies als Verrat an meinem Kind. Er konnte doch nicht so tun, als wäre nichts geschehen! Für mich stand mittlerweile fest: Ich musste mein Leben ändern. Seine Existenz hatte mich geprägt. Wenn ich seine Liebe weitergab, würde er durch mich weiterleben. Ich wünschte mir, dass er niemals vergessen wurde.


Dieser Gedanke entwickelte sich für mich zu einem festen Ziel. All die Wärme und Herzlichkeit, die mir von anderen geschenkt wurde, wollte ich einmal in seinem Namen weitergeben dürfen. Ich bewunderte die Menschen zutiefst, welche die Gabe besaßen, anderen in Not zu helfen. Ich fürchtete nur, es nicht zu schaffen.


Unsere Meinungen über Trauer und deren Bewältigung gingen immer mehr auseinander. Bernd wurde mir von Tag zu Tag fremder. Sollte ich ihn auch noch  verlieren? Statt uns zusammenzubringen, trieb der Schmerz uns auseinander. Auf einem Trauerseminar bei Hamburg kamen wir uns wieder näher. Intensive Gespräche mit anderen Teilnehmern klärten so manch verschwommenen Horizont. Unsere Probleme waren vielen vertraut, gemeinsam fand man Lösungsvorschläge.

 

Dieses Wochenende vermittelte mir reiches Gedankengut. Eine Brieffreundschaft entstand und eine wunderbare Empfindung begleitete mich nach Hause: „Du bist ein wichtiger Mensch".


Die vierte Woche

 

Der erste Tag, den ich nicht mit Tränen begann! Für mich noch vor kurzem unvorstellbar. Ein Gedanke ließ mich jedoch nicht los. Warum konnte ich den Namen meines Kindes nicht aussprechen? In den vergangenen drei Wochen hatte ich stets nur von dem Kind, dem Baby, erzählt. Bewusst wurde mir dies erst auf dem Seminar. Plötzlich begriff ich. Die Trauer um Dominik war nochmals eine ganz eigene Trauer. „Das Baby“ war vielleicht einmal austauschbar. Aber er, Dominik, blieb als Einzigartiger unersetzbar. Nach dieser Erkenntnis begann die Heftigkeit der Trauer wieder ganz von vorne. Herzstechen, Erstickungsanfälle und schwere Schuldgefühle quälten mich. Mein Körper hatte ihn abgestoßen, ihn getötet. Wie ich diese, meine Hülle, hasste wasnur war meinem geliebten Sohn von mir angetan worden. Wie konnte er mir jemals verzeihen? Dominik, mein Kind, ich sehne mich so sehr nach Dir. Ich weiß so wenig von Dir. Nie sah ich in Deine Augen, nie hörte ich Deine Stimme. Was warst Du für ein Mensch?

 

Für mich begann die große Suche nach meinem Sohn. Ich sprach mit ihm, las ihm vor, schrieb Briefe an ihn und stellte überall seine Fotographie auf. Ein Bild, welches sich unauslöschbar in mein Herz gebrannt hatte, tauchte noch öfter als sonst in mir auf: Der Oberarzt, wie er hingebungsvoll meinen Dominik streichelte. Dominik und er, verschmolzen zu einer Einheit. - Vielleicht wäre mein Sohn auch einmal Arzt geworden? Tiefes Verlangen erfasste mich FIPS und den Oberarzt zu sehen. Ich wollte den Raum nochmals betreten, in dem er gestorben war, diesen seinen Geruch einatmen, eine Kerze für ihn anzünden, ihm einfach ganz nahe sein. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich musste mit den Schwestern sprechen, für sie alle war sein Leben ebenfalls Wirklichkeit. Mein über alles geliebter Sohn, könnte ich doch nur bei Dir sein.

 

Die Zeit danach

 

Der Schmerz nahm Formen an, die ich nicht mehr ertragen konnte. Ich flüchtete in ein Niemandsland. Mein Blick wanderte in die Leere. Es war sinnlos mich anzusprechen, ich nahm meine Umwelt nicht mehr wahr. Meine Seele genoss die Ruhe dieser trügerischen Welt. Wagte jemand, mich aus ihr zu reißen, breitete sich in mir eine tiefe Depression aus. In wachen Augenblicken kam mir die große Gefahr zu Bewustsein. Ich musste etwas tun, bevor es zu spät war.

 

Aufgeregt legte ich den Telefonhörer auf. Ich durfte die FIPS besuchen. Sogar „mein Oberarzt“ nahm sich Zeit für mich. Dieser vertraute Geruch. Ich schloss die Augen. Liebling, Du bist mir so nah. Hier hast Du gelebt, gewirkt. Prüfend sah ich mich um. Es war genau wie in meiner Erinnerung. Sogar die Schwestern erkannten mich noch. Das gab mir Mut sie zu bitten, Dominiks Bild aufzuhängen.

 

Ich fühlte mich so wohl in dieser Umgebung. Angst hatte ich nur davor, die Babys zu sehen. Aber weder Hass noch Neid kamen in mir auf. Ich sah die kleinen Würmchen und wünschte ihnen aus tiefstem Herzen alles Gute. Sie sollten leben. Ich dankte Gott für diese Gedanken.

 

Mein Gespräch mit dem Oberarzt verlief anders als geplant. Soviel wollte ich fragen. Stattdessen redete ich ununterbrochen über mich. Seine ruhige Stimme löste die Sperre der vergangenen Tage und eine Welle angestauter Gefühle brach über mir zusammen. Geduldig hörte er mir zu, tröstete mich. Seine Meinung war für mich sehr wichtig.

 

Nach meinem Besuch in Heidelberg nabelte ich mich langsam von meinen Erinnerungen, Phantasien ab. Niemand konnte mir Dominik ersetzen. Und niemand konnte mir meine Trauer abnehmen. Es wurde Zeit zu handeln, wieder an ein Morgen zu denken.


Der Bibelkreis ist für mich zu einem ruhenden Pol geworden. Mein Glaube wächst und das Vertrauen darauf, mein Leben sinnvoll zu gestalten. Dominik ist stets bei mir. Er lebt in meinen Gedanken und Worten. Ich erzähle häufig von ihm und dadurch haben ihn schon viele kennen gelernt. Durch ihn treffe ich zahlreiche fabelhafte Menschen. Freundschaften beginnen zu wachsen. - Ich weine noch sehr oft. Aber ich weiß, es gibt Menschen, die bei mir sind. Mit ihrem Herzen und ihrer Liebe. Ich habe Kräfte und Fähigkeiten in mir entdeckt, die ich mir nie zugetraut hätte.

 

Seit einiger Zeit stille ich einen Funken Sehnsucht nach ihm. Ich trage nun selbst einen grünen Kittel. Als Seelsorgerin arbeite ich ehrenamtlich im Diakonissen Krankenhaus. Dort bin ich ihm immer ein bisschen näher als anderswo. Oftmals durfte ich schon mit meinen Worten und mit meiner Nähe helfen. Es ist schön dieses ehrliche, tiefe „Danke“ zu hören. Dabei beschenken mich diese Menschen. Nicht ich sie.


Tina Krug